Ingelheim – Eurofolkfestival

Es ist ein Arbeits-Freitag und wir müssen das Festival in Ingelheim erreichen, bevor Schnaps im Silbersee spielt! Ich würde es mir nicht verzeihen, Melvin zu verpassen. Nicht, weil es sich gehört, bei Freunden vor der Bühne Präsenz zu zeigen, sondern – ganz klar – aus egoistischen, genusssüchtigen Gründen: Ich mag Melvins als Quatsch verpackten Tiefgang und ich freue mich auf die Liedermachergitarren.
Die Planungen erreichen an diesem Wochenende jedoch ein bislang unerreichtes Maß an Komplexität und das fristgerechte Erscheinen der gesamten Travelparty wird zur logistischen Meisterleistung. Eine jeweils ungerade Anzahl an Musikern plus Partnern, Freunden und ggf. Kindern muss zu jeweils unterschiedlichen Ankunfts- und Abreisetagen, auf eine jeweils gerade Anzahl Hotelzimmer oder Campingplätze mit einer unbestimmten Menge Autos abgeglichen werden. Je KFZ bestehen individuelle Kapazitäten bezüglich Personen- und Gepäckzulast. Gewisse Objekte, wie kaltes Bier oder Gitarren, dürfen das Festival nicht zu früh oder zu spät erreichen und beeinflussen rekursiv die Anzahl der Gaskocher und Schlafsäcke. Falls es außerdem zum Frühstück für mich keinen Darjeeling-Tee geben sollte, werde ich persönlich jemanden umbringen! Mit meinem Micky-Maus-Camping-Teelöffel!
Arme Anna-Lena. Unsere Fotografin ist Mit-Organisatorin vom Eurofolk und – natürlich – für unseren Hühnerhaufen zuständig. Die Sache wird für sie nicht einfacher, als sie erfährt, dass unsere Hotelzimmer am Freitag Abend spontan von den ehrwürdigen Tanahill Weavers belegt werden. Ollo, ebenfalls Organisator, springt ein und nimmt Elena, Katrin und mich am Freitag Abend bei seiner Familie auf.
Es grenzt an ein Wunder, dass wir den Burghof, in dem sich die Liedermacherbühne befindet, sogar vor Beginn des Soundchecks erreichen. Für diese Pünktlichkeit werden wir mit einem übernatürlichen Erlebnis belohnt. Zum Soundcheck von Schnaps im Silbersee singt Melvin allen Ernstes »The Hiker«. Das wirbelt mich kurz, aber heftig durch die Brandung des Realitäts-Stroms: Mein Hirn hört einem Freund zu, der einen Song spielt, den ich vor zehn Jahre geschrieben habe, der davon handelt, dass das Ende des Universums der Beginn der eigenen Seele ist. Melvin du Loop-Arsch! Und Vielen Dank. Es fühlt sich toll an, eine wunderschöne Cover-Version des eigenen Songs zu hören.
Das eigentliche Konzert beamt uns alle vom Alltagsirsinn in den Festival-Modus. Der Stress der letzten Tage ist wie weggeblasen und ein Lach-Flash folgt dem Nächsten. Die drei Musiker bekommen auch das Nachmittags-Schneidersitz-Publikum in Bewegung. Mega Bühnenpräsenz. Umso bewundernswerter, als wir anschließend erfahren, daß der Monitorsound alles andere als ideal war.
The Moonband steht erst am Samstag auf der Bühne und so nutzen Melvin und ich den restlichen Abend, um plappernd über das Festival zu hopsen. Leider sehen wir uns viel zu selten. Schön, dass uns die Musik doch immer wieder einander in die Arme treibt. Irgendwann, mitten in einer philosophischen Grundsatzdiskussion, beschließt Melvin, mit meinem letzten Zwanni, frisches Bier für uns zu holen. Fehler! Ich verliere ihn in der Menge. Man kennt das aus Horrorfilmen: Wenn sich zwei Menschen gleichzeitig suchen, werden beide vom Monster gefressen. Also bleibe ich brav am vereinbarten Treffpunkt und recke meinen Kopf über das Publikum, während ich langsam in der Festivalsonne verdurste. Nach etwa einer Stunde gebe ich auf. Dehydriert und pleite schleppe ich mich zum Getränkestand. Als ich mich in die schier endlose Reihe einordne, stelle ich verwundert fest, dass der Spaßvogel jetzt hinter der Bar steht und ausschenkt. What the…?
Dieses Bier geht auf ihn und der Abend endet in einer Session an der Burgmauer. Es get lustig zur Sache. Judith, die Violinistin der Schnäpse, entpuppt sich als Multitalent. Es fällt ihr nicht besonders schwer, uns für ein paar Songs zu begleiten. Als sich dann eine Gruppe Musiker aus dem arabischen Raum hinzugesellt und sich ihre Geige ausleiht, schnappt sie sich kurzerhand ein Akkordeon und jammed selbstverständlich mit. Oberhammer! Die Konversation hakt, aber das Musizieren fließt, dank Judith. Unseren CDU/CSU-Pappenheimern sollte mal einer erklären, dass es für ein Zusammenspiel ein paar mehr Halbtöne braucht, als die, die unser westliches Harmonieverständnis bietet. Umfangreicher Musikunterricht wäre ein Lösungsansatz.
Am Samstag auf der Bühne stelle ich fest, dass ich, vermutlich wegen Organisations-Unübersicht, unseren Kabelkoffer zu Hause vergessen habe. Diese Schludrigkeit ärgert mich. Ich könnte mich ohrfeigen und verkabele unsere Floor Boards mit Kabelresten der Bühnentechniker. Folkband hin oder her – vor 300 Menschen ohne Kabel zu spielen, ist wie ein Freibadkiosk ohne Pommes. Die Freude, in Ingelheim zu spielen, lassen wir uns trotzdem nicht nehmen. Es läuft gut und der Monitorsound ist bombastisch. Wie bereits vor einigen Jahren wird unser Konzert abrupt unterbrochen. Wir spielen etwa unseren fünften Song, als ein ohrenbetäubendes Läuten einsetzt. Der Kirchturm der Burgkirche hat Stuhlgang. Gegen Gottes Gebimmel hat keine P.A. der Welt eine Chance. Ich nutze die Pause für ein atheistisches Plädoyer und bin voll in meinem Element. Eine Riesengaudi. Die folgende Nacht wird ähnlich gefeiert wie die Letzte. Von unserer Wagenburg, ein wenig oberhalb des Areals, verfolgen wir den Headliner. Eine Pop-Folk-Funk-Hip-Hop-Metall-Jazz-Druidenband. Wir haben Spaß.
Nach einer großen Verabschiedungsrunde verlassen wir am Sonntag Vormittag das Ingelheimer Eurofolkfestival 2017. Katrin cruised den Bus durch die Altstadt. Ich hänge meine Festivalzehen aus dem Fenster in den Sonnenwind und schlürfe, ohne Mordlust, einen lauwarmen Club Mate.